Barrierefreiheit auf Websites: Pflicht, Kür oder Wettbewerbsvorteil für B2B-Unternehmen?

10.10.2025

Was das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) seit Juni 2025 wirklich bedeutet – und warum jetzt immer mehr B2B-Unternehmen trotz fehlender Pflicht sich dem Thema annehmen.

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Dieser Artikel wurde verfasst von:

Yann Metzmacher

Seit dem 28. Juni 2025 ist das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Deutschland vollständig in Kraft. Es verpflichtet erstmals private Wirtschaftsakteure, ihre digitalen Angebote – also Websites, Apps und Online-Dienste – barrierefrei zu gestalten. Für B2B-Unternehmen könnte sich die Frage stellen: Betrifft uns das überhaupt? Die kurze Antwort darauf lautet – rechtlich gesehen nein. Die strategisch relevante Antwort darauf ist deutlich komplexer.

Was regelt das BFSG – und wen betrifft es?

‍Das BFSG setzt die europäische Richtlinie 2019/882 in deutsches Recht um. Zum ersten Mal werden damit private Wirtschaftsakteure zur Barrierefreiheit verpflichtet – allerdings ausschließlich im B2C-Bereich.

Das Gesetz gilt für Online-Shops, Bankdienstleistungen für Verbraucher, Personenbeförderung, E-Books und Selbstbedienungsterminals. Ausgenommen sind reine B2B-Angebote, Kleinstunternehmen sowie private Angebote.

Wichtig für Sie: B2B-Unternehmen, die ausschließlich Dienstleistungen für andere Unternehmen anbieten und keinen direkten Kontakt zu Endverbraucher*innen haben, sind von dem Gesetz nicht betroffen.

Wir zeigen Ihnen, warum Ihr Unternehmen die digitale Barrierefreiheit trotzdem angehen sollte. Dafür lohnt sich ein Blick auf die technischen Standards, die das BFSG vorschreibt.

Der technische Standard: WCAG 2.2

Das BFSG schreibt die Einhaltung der Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) in der Konformitätsstufe AA vor. Diese basieren auf vier Prinzipien:

  • Wahrnehmbar: Alternativtexte für Bilder, ausreichende Kontraste (mindestens 4,5:1 Helligkeitsunterschied für gute Lesbarkeit, bei großem Text 3:1), Untertitel und ggf. Transkripte für Videos (Texteinblendungen für Hörgeschädigte).
  • Bedienbar: Vollständige Tastaturbedienung, große Klickflächen (mindestens 24 × 24 CSS-Pixel), keine blinkenden oder flackernden Inhalte mit kritischen Frequenzen.
  • Verständlich: Leichte Sprache, konsistente Navigation, klare und nachvollziehbare Fehlermeldungen.
  • Robust: Kompatibilität mit assistiven Technologien wie Screenreadern (Software, die Bildschirminhalte für blinde und sehbehinderte Menschen per Sprachausgabe oder in Braille – einer tastbaren Punktschrift, die über eine spezielle Braillezeile gelesen wird – ausgibt).

Die WCAG 2.2 – erstmals veröffentlicht im Oktober 2023 und im Dezember 2024 aktualisiert – ergänzen diese Anforderungen um neue Erfolgskriterien, die vor allem die Bedienbarkeit und Verständlichkeit weiter verbessern. Neu sind etwa: ein stets sichtbarer, nicht verdeckter Tastaturfokus, Hilfestellungen bei Authentifizierung ohne kognitive Tests wie Captchas (z. B. alternative Verifizierungswege), konsistente Platzierung von Hilfefunktionen (z. B. Kontakt oder FAQ) sowie die Vermeidung komplexer Gesten oder präziser Bewegungen bei der Bedienung.

Vielleicht denken Sie sich jetzt: Weshalb sollten Sie als B2B-Unternehmen diese Standards umsetzen, wenn Sie nicht dazu verpflichtet sind?

Warum B2B-Unternehmen trotzdem handeln sollten

1. Ihre Zielgruppe ist größer als Sie denken

Menschen verlieren ihre Einschränkungen nicht im beruflichen Kontext. In Deutschland leben laut Statistischem Bundesamt 7,9 Millionen schwerbehinderte Menschen, 575.000 Menschen mit Funktionseinschränkungen an Armen oder Beinen, 190.000 mit Schwerhörigkeit – viele davon im erwerbsfähigen Alter. Hinzu kommen 6,2 Millionen funktionale Analphabeten und weitere 10,6 Millionen Menschen mit Lese- und Schreibschwäche.

Doch permanente Einschränkungen sind nur ein Teil der Realität. Situative Faktoren betreffen jeden: Sonneneinstrahlung auf dem Display, ein Baby auf dem Arm, Müdigkeit nach langen Meetings. Barrierefreiheit bedeutet gleichberechtigter Zugang für alle Menschen – in jeder Situation.

Praxisbeispiel: Ein Softwareanbieter verliert einen Großauftrag, weil seine Demo-Plattform nicht mit Screenreadern kompatibel ist. Der Entscheider beim potenziellen Kunden ist sehbehindert – der Auftrag geht an einen Wettbewerber.

2. UX-Design und Barrierefreiheit gehen Hand in Hand

Barrierefreiheit verbessert die Nutzererfahrung grundsätzlich für alle. Klare Strukturen, eindeutige Navigation, ausreichende Kontraste – davon profitiert jeder Nutzer.

Das zeigt sich konkret: Erweiterte Zielgruppen durch inklusives Design, höhere Conversion-Rates durch angemessene, nicht-diskriminierende Sprache, reduzierte Absprungraten durch strukturierte Informationen und Tastaturbedienung – weil diese auch Menschen ohne Maus, etwa mit motorischen Einschränkungen, eine einfache Navigation ermöglicht – , gestärkte Sichtbarkeit durch Kompatibilität mit assistiven Technologien.

Praxisbeispiel: Ein Maschinenbauunternehmen redesignt seinen Online-Konfigurator barrierefrei. Alle Eingabefelder werden beschriftet, Kontraste verbessert und die Bedienung vollständig per Tastatur ermöglicht. Das Ergebnis: Nicht nur Nutzer mit Einschränkungen profitieren – auch erfahrene Ingenieure finden sich schneller zurecht und können Konfigurationen schneller abschließen, da die Benutzerführung klarer und Fehlbedienungen seltener sind.

3. SEO-Vorteile für klassische und KI-gestützte Suche

Suchmaschinen benötigen ähnliche strukturelle Informationen wie Screenreader: semantisch korrektes HTML, aussagekräftige Überschriften-Hierarchien und beschreibende Alt-Texte. Eine barrierefreie Website wird nachweislich besser verstanden, indexiert und gerankt – in klassischen Suchergebnissen und zunehmend auch in KI-gestützten Antworten wie ChatGPT oder Google AI Overviews. Studien zeigen inzwischen, dass Verbesserungen in der Barrierefreiheit häufig mit messbar höherem organischen Traffic und besserer Sichtbarkeit einhergehen.

4. Zukunftssicherheit und Risikominimierung

Die rechtliche Lage ist nicht statisch. Ihre Geschäftspartner im B2C-Bereich könnten zunehmend barrierefreie Lösungen auch von B2B-Zulieferern fordern. In anderen Märkten gelten möglicherweise strengere Regelungen. Bei öffentlichen Ausschreibungen wird Barrierefreiheit zunehmend zum Auswahlkriterium.

Praxisbeispiel: Ein IT-Dienstleister kann an einer EU-weiten Ausschreibung teilnehmen, weil seine Plattform bereits barrierefrei ist. Wettbewerber ohne entsprechende Vorbereitung sind ausgeschlossen.

5. Gesellschaftliche Verantwortung und wirtschaftliche Potenziale

Digitale Inklusion ist Teil gesellschaftlicher Verantwortung. Unternehmen, die freiwillig auf Barrierefreiheit setzen, positionieren sich als sozial verantwortungsbewusst und zukunftsorientiert. In Zeiten, in denen ESG-Kriterien für Investoren, Talente und Geschäftspartner immer wichtiger werden, erschließen barrierefreie Websites größere Zielgruppen und schaffen Zugänge, die Wettbewerber möglicherweise noch ignorieren.

Wo Unternehmen konkret anfangen können

1. Status Quo ermitteln: Ein professionelles Barrierefreiheits-Audit identifiziert kritische Barrieren, Quick Wins und langfristige Optimierungspotenziale.

2. Priorisieren Sie strategisch: Nicht alles muss sofort perfekt sein. Fokussieren Sie sich zunächst auf drei zentrale Anforderungen:

  • Priorität A: Gute Kontraste – stellen Sie sicher, dass Texte und UI-Elemente ausreichende Farbkontraste haben (mindestens 4,5:1 für normalen Text, 3:1 für große Texte gemäß WCAG AA).
  • Priorität B: Bessere Informationsstruktur – nutzen Sie semantisch korrektes HTML, klare Überschriftenhierarchien und logische Seitenstrukturen.
  • Priorität C: Assistive Technologien sorgen Sie für vollständige Tastaturbedienbarkeit, aussagekräftige Alt-Texte und ARIA-Labels (zusätzliche HTML-Attribute, die Screenreadern semantische Informationen über Elemente liefern).

Priorisieren Sie dabei Kernfunktionen wie Kontaktformulare und Produktsuche, Bereiche mit hohem Traffic sowie Elemente, die auch Ihre Mitarbeiter nutzen.

3. Schulen Sie Ihr Team: Barrierefreiheit betrifft Content-Manager, Designer und Entwickler gleichermaßen.

4. Etablieren Sie Prozesse: Integrieren Sie Barrierefreiheit in Ihre Standard-Workflows: Checklisten für neue Features, automatisierte Tests in der Entwicklung, regelmäßige Reviews.

5. Kommunizieren Sie Ihr Engagement: Erstellen Sie eine Barrierefreiheitserklärung, bieten Sie Feedback-Kanäle an und zeigen Sie kontinuierliche Verbesserung.

Allein in Deutschland zählen rund 9,5 % der Bevölkerung – also etwa 7,9 Millionen Menschen – zu der Zielgruppe, die durch optimierte Accessibility besser erreicht werden. Potenzial, das sonst ungenutzt bleibt.

Was kostet Barrierefreiheit wirklich?

Bei Neuentwicklungen kann Barrierefreiheit Mehrkosten von etwa 5-15 % verursachen – eine überschaubare Investition. Bei Bestandswebsites hängt der Aufwand vom aktuellen Zustand ab. Ein professionelles Audit ermöglicht priorisierte Umsetzung. Eine schrittweise Verbesserung ist legitim und sinnvoll.

Der Return on Investment: Größere Zielgruppe, weniger Support-Anfragen, bessere SEO-Performance, reduziertes Risiko zukünftiger Anpassungskosten.

Kurz-Check für B2B-Unternehmen

  • Sind Ihre Inhalte mit Screenreadern vollständig nutzbar? 
  • Erfüllen Farbkontraste und Schriftgrößen die WCAG-Standards? 
  • Ist Ihre Website vollständig per Tastatur bedienbar? 
  • Haben Sie Alt-Texte für alle relevanten Bilder? 
  • Sind Ihre Formulare klar beschriftet mit verständlichen Fehlermeldungen? 
  • Bieten Sie Untertitel oder Transkripte für Video- und Audio-Inhalte?

Das BFSG mag B2B-Unternehmen rechtlich nicht in die Pflicht nehmen – doch wer daraus ableitet, sich nicht mit digitaler Barrierefreiheit beschäftigen zu müssen, verpasst eine strategische Chance. Die Frage ist nicht, ob Sie sich mit Barrierefreiheit beschäftigen sollten – sondern wann Sie damit beginnen. Denn wer heute barrierefrei denkt, gestaltet die digitale Experience von morgen.

Noch Fragen? Let's talk:

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